Das Feuer brennt wieder

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Bild: Philipp Schmidli

Bis 2021 war Alessia Bösch Swiss-Ski-Athletin. Nach Abschnitten als Weltenbummlerin und Swiss-Ski-Praktikantin ist die 20-Jährige nun wieder Skirennfahrerin – und Managerin, Servicefrau und Trainerin gleich dazu.

Ende, Aus. Es war im Dezember 2021, als Alessia Bösch die Notbremse zog. Sie, die mehrfache Schweizer Juniorenmeisterin und Siegerin von FIS-Rennen – plötzlich weg. Der Rücktritt überraschte zwar alle. Doch für die damals 18-jährige Engelbergerin war er der einzige Ausweg. «Ich war einfach überfordert», sagt Alessia Bösch. Das letzte Jahr am Sportgymnasium stand an, die Schwester, mit der sie ein enges Verhältnis pflegt, flog für ein Austauschjahr nach Amerika und war plötzlich weit weg, anhaltende Rückenprobleme plagten sie. Schliesslich wurde bei ihrem Vater ein sehr seltener Hirntumor diagnostiziert; das Leben der Böschs wurde von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. «Ich versuchte, dranzubleiben. Aber aus eigener Kraft konnte ich mich nur vom Druck des Skifahrens entlasten.» 

Alles anders 

Zweieinhalb Jahre ist es her, seit Alessia Bösch ihre Skikarriere für beendet erklärte. Zunächst schien dieser Entscheid endgültig. Unmittelbar nach dem Rücktritt verschwendete sie keinen Gedanken ans Skifahren. «Doch als ich vergangenen Sommer in Asien am Backpacken war, holte es mich am anderen Ende der Welt, bei 30 Grad am Strand, plötzlich wieder ein.» Wie sehr ihr das Gefühl auf den Rennski fehlte, wollte sie sich damals noch nicht eingestehen. «Ich wollte meinem Entscheid treu bleiben.» 

Es ist Januar 2024, als Alessia Bösch ehrlich zu sich selbst sein muss. In der Zwischenzeit war sie heimgekehrt und hatte im Oktober 2023 ein Praktikum in der Kommunikationsabteilung von Swiss-Ski angetreten. «Ich erachtete das als perfekte Gelegenheit: Ich hatte die nötige Nähe zum Skisport, um alles aufzuarbeiten und damit abzuschliessen. Ich erhoffte mir davon, die Akzeptanz zu finden, dass ich nun auf der anderen Seite bin.» Zunächst klappte das gut. Doch dann wurde sie als Praktikantin an die alpinen Junioren-Weltmeisterschaften im Skigebiet Portes du Soleil geschickt. Sie kommunizierte die Erfolge ihrer Kolleginnen und Kollegen – und realisierte, dass ihre Karriere noch nicht zu Ende ist. Die Titelkämpfe brachten ihr diese Gewissheit. Am dritten Tag der Junioren-WM telefonierte Bösch mit ihrer besten Freundin, der Weltcup-Fahrerin Delia Durrer, und vertraute sich ihr an. In der Erwartung, zu hören, die Gefühle seien bloss eine «Phase», dass das wieder vorbeigehe, war es schliesslich Delia, die Alessia zum Handeln motivierte. «Sie sagte: ‹Ich spüre, wie fest das Feuer wieder brennt.› Zwei Wochen später war sie bei uns zum Znacht und zwang mich, Weng anzurufen.» 

Sie wollte kein Interview 

Weng, mit vollem Namen Werner Zurbuchen, ist heute Nachwuchschef von Swiss-Ski. Zuvor war er unter anderem Trainer von Alessia Bösch gewesen, bis zu deren Rücktritt. «Er kennt mich als Athletin, ist immer schonungslos ehrlich, und ich vertraue ihm zu 100 Prozent», sagt Bösch. «Ich habe mir jegliche Szenarien ausgemalt, was beim Telefonat passieren könnte. Eines davon war, dass Weng mir sagen würde, der Zug sei abgefahren und ich hätte keine Chance mehr. Ich wäre am Boden zerstört gewesen, hätte es aber akzeptiert.»

Dieses Szenario bewahrheitete sich nicht. «Weng nahm ab und fragte, ob er mir wieder ein Interview geben müsse», erinnert sie sich. Nach einem 20-minütigen wirren Monolog – «ich hatte mir das ganze Gespräch Wort für Wort aufgeschrieben, doch dann sprudelte es einfach zusammenhangslos aus mir heraus» – war klar, dass Alessia nicht in der Rolle als Kommunikations-Praktikantin angerufen hatte. Sondern als die Skirennfahrerin, die sie einmal war – und die sie wieder werden wollte. Auf die Unterstützung ihres ehemaligen Trainers konnte sie von da an zählen. «Er sagte mir, ich solle noch einmal eine Nacht darüber schlafen, mir darüber klar werden, ob diese Comeback-Gedanken wirklich Hände und Füsse haben, mit meinen Eltern über alles reden. Und falls ich dann immer noch gewillt sei, das alles auf mich zu nehmen, am nächsten Tag nochmals anrufen.» Alessia Bösch rief nochmals an. 

Die Angst, es der Oma zu sagen

Was folgte, waren unzählige Telefonate, Mails und Gespräche. «Ich war nicht Teil eines Kaders, hatte keine Sponsoren, keinen Skiausrüster – es gab brutal viel zu organisieren.» Mit offenen Armen wurde sie schliesslich bei Atomic empfangen. Am 27. Februar fuhr sie erstmals wieder in den Toren. Sie hat sich dem Zentralschweizer Schneesportverband angeschlossen, fürs Konditionstraining kann sie die Räumlichkeiten der Sportmittelschule Engelberg nutzen. «Ich war in vielem überfordert, wusste nicht, wie vieles funktioniert. Für die Unterstützung, auf die ich zählen darf, bin ich unendlich dankbar.» 

Auch in ihrer Familie stiess Alessia auf kompromisslosen Support. «Die grosse Angst, meine Comeback-Pläne zu verkünden, stellte sich als sehr unbegründet heraus.» Bloss vor einer Reaktion fürchtete sie sich noch länger: «Einen Tag vor der Verkündigung telefonierte ich mit meiner Oma. Wir schauten beide Skirennen. Oma meinte, sie sei schon sehr nervös, weil Delia bald dran sei. Und dann sagte sie, sie sei einfach nur froh, dass ich nicht mehr Ski fahre, sie habe immer eine solche Angst.» Keine optimalen Voraussetzungen, um tags darauf das Comeback anzukündigen. «Heute ist sie schon wieder Fan an vorderster Front.» 

Alessia Bösch fokussiert sich zuerst auf einen guten Kraftaufbau, trainiert drei Tage pro Woche auf dem Schnee und bringt bis Ende April das Praktikum bei Swiss-Ski regulär zu Ende. Skifahrerisch sieht sie sich nach wie vor als Allrounderin, legt den Fokus aber vorerst auf die technischen Disziplinen. Ihr Plan sieht vor, im Sommer zunächst mit dem NLZ Mitte auf dem Stelvio zu trainieren, im Juli dann mit dem C-Kader auf den heimischen Gletschern. Im August möchte sie in Neuseeland sowohl den Trainingsrückstand weitgehend kompensieren als auch Rennen fahren, um die stark angestiegenen FIS-Punkte zu verbessern. «So kann ich mir im Optimalfall eine gute Ausgangslage für die kommenden Saison schaffen.»

Finanzierung als Knackpunkt

Ski fahren ist in ihrer jetzigen Situation lediglich ein kleines Puzzleteil. Alessia Bösch ist gleichzeitig Managerin, Servicefrau, Trainerin, Athletin, Sekretärin. So ist sie auch dafür verantwortlich, Geld aufzutreiben, um ihren Traum wieder leben zu können. Eine normale Saison auf FIS-Stufe, schätzt sie, koste etwa 30'000 bis 40'000 Franken – allfällige Übersee-Camps ausgenommen. Die Finanzierung, sagt sie offen, sei denn auch der Knackpunkt des Comeback-Projekts. Wenn sie mit dem ZSSV trainiert, erhält sie für jeden Skitag eine Rechnung. Hinzu kommen die Ausrüstung, Serviceprodukte, Flüge, Hotelkosten. Kosten, die alleine nicht zu stemmen sind. 

Alessia Bösch und ihre Familie haben ein Crowdfunding lanciert (siehe Box), zusätzlich ist sie auf der Suche nach Sponsoren. «Das ist mir bisher am schwersten gefallen. Mich selbst zu vermarkten, ist unangenehm.» Sie habe über ihren Schatten springen müssen – weiss aber, wofür sie es tut. «Ich habe eine so grosse Freude, wieder auf den Ski zu stehen», sagt sie. «Es macht mir nichts aus, die Ski zu machen, das Training zu organisieren. 

Teilweise bin ich abends um 11 noch am Telefon. Aber es zahlt sich schon dann aus, wenn ich am nächsten Tag wieder auf den Ski stehe.»

Einfach weiterschwimmen

Alessia Bösch hätte es auch einfacher haben können, das ist ihr bewusst. Ihren Rücktritt bereut sie dennoch nicht. «Ich bin zu 100 Prozent überzeugt, dass ich damals richtig entschied», erklärt sie. «Ich musste zuerst andere Dinge lösen, wachsen, stärker werden. Ich musste die Leere aushalten, die nach dem Rücktritt in mein Leben trat, musste mir Fragen stellen, wer ich neben dem Sport noch bin, welche anderen Stärken ich habe.» Das alles habe sie weitergebracht. «Ich bin mental viel stärker als mit 18. Und ich nehme vieles nicht mehr für selbstverständlich und erachte es als Privileg, diesen Weg noch einmal gehen zu dürfen.» 

Dass diesen Weg Steine und organisatorische Hindernisse säumen, nimmt sie an. Auch ihr Comeback verfolgt sie unter ihrem Lebensmotto: «Just Keep Swimming». Das Zitat stammt aus dem Film «Findet Nemo». «Dieser Spruch hat mich geprägt, seit mein Vater seine Diagnose erhalten hat. Er erinnert mich daran, nie aufzugeben und das Licht am Ende des Tunnels zu sehen», erzählt Alessia Bösch. Als Hashtag setzt sie ihn unter jeden ihrer Comeback-Posts. «Er passt sehr gut zu diesem Prozess. Auch wenn es schwierig wird, werde ich mit allem kämpfen, was ich habe.» 

Zwei Jahre gibt sie sich Zeit. Das vordergründige Ziel ist, die Rückkehr in ein Swiss-Ski-Kader zu schaffen. «Wenn das nach einer Saison klappt, würde das vieles erleichtern. Doch zwei Jahre sind eher realistisch.» In einem Jahr gibt es die erste Standortbestimmung. Alessia Bösch hofft, sich dann wieder voll und ganz als Skirennfahrerin zu fühlen. «Vorerst aber ist das Wichtigste, Freude am Skifahren zu haben sowie Selbstvertrauen, das Skigefühl und die Technik zurückzuerlangen», erzählt sie. «Alles andere wird sich zeigen.»

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