Pepe Regazzi: Der Coach, der sein Team auch das Kochen lehrte

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Pepe Regazzi ist der Mann hinter einer goldenen Ära des Schweizer Halfpipe-Snowboardens. Nun hat er als Trainer des Teams aufgehört, nach fast 20 Jahren. Zeit für ein Bilanzessen in der engsten Heimat.

Wo soll man mit Pepe Regazzi zusammensitzen, wenn nicht in einem besonderen Tessiner Ristorante?

Das Missultin in seinem Dorf Vira am Lago Maggiore wirft Regazzi, 55, zurück in die Zeit, als er noch ein Ragazzo war. «Damals hiess das Missultin noch Rodolfo», erzählt Regazzi. «Sonntags nach der Kirche kam ich mit meinem Vater und mit meinem Grossvater immer hierher zum Aperitivo.» Es war eine Art Ritual der Männer von Vira, und sie pflegten es, während die Frauen daheim das Mittagessen kochten. «Wir hockten rund um den grossen Tisch in der Mitte des Raumes, das Kaminfeuer brannte, wir redeten und sangen Tessiner Lieder.»

Das Ristorante hat sich verändert seither, es ist aufwendig renoviert worden und steht seit der Wiedereröffnung vor zwei Jahren für gehobene Gastronomie. Was der Lauf der Zeit aus dem Ragazzo Pepe gemacht hat? Einen Reisenden, der seiner Heimat eng verbunden geblieben ist. Einen Facettenreichen, der immer wieder neue Projekte anpackt. Einen Snowboard-Pionier, der als Trainer zu einer legendären Figur geworden ist.

«So viel mehr als ein Trainer»

Fast 20 Jahre lang stand Regazzi an den Halfpipes dieser Welt und coachte das Schweizer Team. Zu diesem Team gehörte bis 2014 auch Ursina Haller, die WM-Zweite von 2011. Haller sagt über Regazzi: «Pepe ist so viel mehr als ein Trainer. Er hat so viele von uns geprägt – nicht nur als Athletinnen und Athleten. Sondern als Menschen. Einen wie ihn triffst du nur einmal im Leben.»

Regazzi hat sein Team immer als echte Gemeinschaft verstanden. Er lebte vor, was er einst in Vira aufgesogen hatte: die Freude am Zusammensein, Kochen und Essen, die Freude am Leben. Im Ausland mietete er immer wieder Apartments, wo der Snowboard-Coach abends zum Koch-Coach mutierte, wo alle gemeinsam in der Küche standen und vorbereiteten, was danach auf den Tisch kam.

Regazzi gab 2012 «Ticino ti cucino» heraus, ein wunderbares Buch mit Originalrezepten und kulinarischen Geschichten aus dem Tessin. 2016 folgte, wieder in Kooperation mit der Fotografin Juliette Chrétien, seiner Partnerin, «Famiglia nostrana». Es ist ein Buch, in dem man nur dann blättern sollte, wenn man alles stehen und liegen lassen kann, um mit dem nächsten Zug in den Südkanton zu reisen und all die Grotti, Unterkünfte, Weingüter, Käsereien, Metzgereien, die für das ursprüngliche Tessin stehen, in natura zu entdecken.

«Die Inspiration für diese Bücher geht nicht zuletzt auf diesen Ort zurück», sagt Regazzi zwischen zwei Gängen im Missultin. Als er noch selber eine Art Profisnowboarder war, verschlug es Regazzi im Tessiner Sommer immer wieder in den argentinischen Winter. «Ich sah, wie stolz die Menschen dort auf ihr Fleisch oder ihren Wein sind. Und ich fragte mich, warum die eigenen Spezialitäten im Tessin weniger zelebriert werden. Ich wollte etwas dagegen tun.»

Schockverliebt am Monte Tamaro

Das Snowboarden machte aus Pepe Regazzi einen Nomaden, aber verfallen war er diesem Sport im Tessin. Ein Wintertag im Jahr 1986 am Monte Tamaro, Tiefschnee. Regazzi, 17-jährig und in der Lehre, hat erstmals ein solches Brett an den Füssen, es ist geliehen. Er zieht seine Spur in den Hang – und schon ist es um ihn geschehen. Ende der Achtzigerjahre zieht Regazzi ins Engadin und wird Snowboardlehrer – es ist ein sehr neuer und recht exotischer Beruf in der damaligen Zeit. 15 Winter lang macht er das, daneben fährt er alpine Snowboardrennen und Boardercross und nimmt auch an Freestyle-Contests teil. Später verlagert Regazzi den Fokus auf die Ausbildung, er wird erster J+S-Snowboard-Experte, engagiert sich bei Swiss Snowsports. 2005 stösst er als Assistent von Marco Bruni zu Swiss-Ski, 2011 löst er seinen Compagnon als Headcoach ab.

Es gibt kaum einen besseren Zeitzeugen für den Wandel des Snowboardens von der Subkultur zum Massensport, vom Akt der Rebellion zum handelsüblichen olympischen Spitzensport, vom primär freigeistig-stylischen zum ebenso akrobatisch-athletischen Spektakel. Christian Haller, der Bruder von Ursina Haller, brachte die Entwicklung 2016 in der «Neuen Zürcher Zeitung» so auf den Punkt: «Snowboarden ist von einem Sport im Schnee zu einem Sport in der Luft geworden.»

Halfpipes für die Elite sind heute monströse Skulpturen aus Schnee und Eis, kein Vergleich zum harmlosen Halbröhrchen, in dem Gian Simmen 1998 in Nagano zum ersten Olympiasieger wurde. Der Bündner brauchte damals noch keinen Helm, und die Kappe fiel ihm während des Runs vom Kopf.

Doch Regazzi wehrt sich, wenn das heutige Freestyle-Snowboarden mit Kunstturnen verglichen wird wegen all der zirkusreifen Rotationen um die Körperachsen. Er denkt lieber an Katzen, die auf den Füssen landen, nachdem man sie in die Luft geworfen hat. Fliegen und stehen – darum geht es, und wer sich dieses Katzenhafte nicht aneignet, lebt gefährlich. Regazzi begriff das früh und begann deshalb mit der Accademia Teatro Dimitri zusammenzuarbeiten, der Zirkusschule des legendären Clowns; er liess seine Athleten vom Akrobatiktrainer und von der Tanzlehrerin der Accademia unterrichten.

Was da alles zusammenkam!

Der Vordenker Regazzi steht für eine goldene Ära des Schweizer Halfpipe-Snowboardens. Der Höhepunkt? Der Olympiasieg von Iouri Podladtchikov am 11. Februar 2014 in Sotschi, 16 Jahre und einen Tag nach Gian Simmen. Was da alles zusammenkam! Podladtchikov hatte für die Vorbereitung eine Industriehalle in Freienbach und eine Vert-Ramp für das Skateboard-Training gemietet, er investierte Zehntausende von Franken aus dem eigenen Sack.

Regazzi importierte ein Trampolin aus Kanada, das grösser war als alle Trampoline, die er zuvor gesehen hatte. Auch dieses Trampolin stellten sie in die Industriehalle, «wir bauten ein Gerüst aus Holzpaletten darum herum und spannten ein Netz, damit niemand rausfliegt», erinnert sich Regazzi. Podladtchikov war ein sportlicher Extremist, hart zu sich und manchmal schwierig für andere, aber seine Halle war auch die Halle seines Teams.

Für Podladtchikov kulminierten dieser Innovationsgeist, diese Hingabe, dieser Schweizer Weg im grösstmöglichen Triumph – im Land seiner Geburt und Herkunft. Und Pepe Regazzi sagte etwas, was man Trainer gerade in kleineren Sportarten, in denen ihr Idealismus umso wichtiger ist, immer wieder sagen hört in Momenten, die doch einfach nur erfüllend sein sollten. Er sagte, er sei ausgelaugt.

Manchmal befand er sich in einem Dilemma

Regazzi schöpfte neue Kraft und machte weiter. Erst jetzt ist seine Zeit als Trainer des Schweizer Teams zu Ende gegangen. Weil die Suche nach einem Nachfolger schwierig war, hat Regazzi das Team ein letztes Mal auf die Saison vorbereitet, unterstützt von Iouri Podladtchikov, der seit diesem Jahr punktuell für den Verband arbeitet. Am 1. November wurde Regazzi vom Deutschen Patrick Cinca abgelöst.

Regazzi hat sich und das Halfpipe-Snowboarden immer wieder hinterfragt, gerade nach schweren Stürzen und heftigen Verletzungen. «Unsere Sportart stösst an Grenzen, vor lauter Medaillendenken und Streben nach noch mehr Rotationen verlieren wir die Realität aus den Augen», meinte er, nachdem Iouri Podladtchikov 2018 ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte. «Es ist auch der Moment für die Message, dass jeder Athlet in Gefahr ist.»

Wenn er von der Eskalation sprach, wie er die Entwicklung hin zu immer noch schwierigeren Tricks nannte, war sich Regazzi des Dilemmas bewusst, in dem er sich befand. «Als ich anfing, wollte ich, dass wir die dominanten Amerikaner schlagen», sagt Regazzi. Um das zu schaffen, mussten die Schweizer die Entwicklung nicht nur annehmen, sondern mitgestalten. «Doch meine Einstellung zum Spitzensport hat sich verändert in den letzten Jahren. Heute sehe ich im Spitzensport vor allem eine grossartige Chance, wahnsinnig viel über sich zu lernen und eine bessere Person zu werden.»

Pepe, der Pächter

Pepe Regazzi macht kein Geheimnis daraus, dass er eine gewisse Müdigkeit und Sättigung verspürt nach all den Jahren. Er sehnt sich danach, weniger herumzureisen und weniger Zeit am Pipe-Rand zu verbringen. Er wird der Szene in reduziertem Umfang erhalten bleiben, als Privatcoach der bereits 34-jährigen Spanierin Queralt Castellet und des erst 15-jährigen Italo-Amerikaners Alessandro Barbieri. «Für mich hat eine Übergangsphase begonnen», sagt er. «Mein Traum wäre, eine richtig geile Freestyle-Academy aufzubauen in der Schweiz.»

Aber da ist noch ein anderes Projekt. Im nächsten Sommer wird die Capanna Gambarogno eröffnet. Die einstige Militärhütte liegt auf dem Gipfel des Monte Gambarogno, die Aussicht auf den Lago Maggiore ist betörend. Regazzi und sein Freund Manolo Piazza konnten die Hütte 2010 für wenig Geld kaufen. Mit dem Ziel, sie in ein Bergrestaurant mit Schlafplätzen zu verwandeln, wurde 2016 ein Verein gegründet. Letztes Jahr begann der grosse Umbau, Regazzi hat in seiner Freizeit wochenlang selber Hand angelegt.

Auch mit der Capanna verbindet ihn eine lange Geschichte. In den Neunzigerjahren hatte der damals florierende Snowboardclub Gambarogno die Hütte gemietet, Regazzi und seine Freunde verbrachten viel Zeit dort oben. Nun wird er sie als Pächter übernehmen.

Wo soll man das nächste Mal mit Pepe Regazzi zusammensitzen, wenn nicht in der Capanna Gambarogno?