Renato Ulrich: «Das Schwierigste ist, einfach einmal nichts zu sagen»

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Bild: Swiss-Ski/Stephan Bögli

Der frühere Aerials-Athlet Renato Ulrich analysierte auch in der am Wochenende zu Ende gegangenen Weltcup-Saison die Sprünge des Schweizer Teams als Experte live im Fernsehen. Im Interview erzählt der Luzerner, warum er nach dem Rücktritt nie mehr über die Schanze gesprungen ist – und was er Noé Roth und Pirmin Werner an den Heim-Weltmeisterschaften 2025 im Engadin zutraut.

Renato, du warst Aerials-Athlet und bist jetzt SRF-Experte. Bei welcher Tätigkeit war oder ist dein Puls höher? 
Renato Ulrich: Als Athlet war der Puls sicher höher. Ich fiebere jetzt zwar mehr mit, aber doch mit einer grösseren Distanz. Früher hatte ich bei jedem Sprung Herzklopfen, das kann man nicht vergleichen. 

Als SRF-Experte kommentierst du quasi die Sprünge deiner Nachfolger. Wie ist es dazu gekommen? 
Das war ein glücklicher Zufall. Aufgrund der Erfolge des Teams kam Aerials beim SRF auf den Radar, woraufhin das SRF den Cheftrainer Michel Roth nach möglichen Experten fragte. Und Michel meinte, das könnte etwas für mich sein.

Wie erlebtest du dein Debüt? 
Es ging alles sehr schnell. Knapp eine Woche vor meinem ersten Einsatz, dem Weltcup in Ruka 2021, erhielt ich die finale Zusage. So blieb keine Zeit mehr zum Üben, weshalb ich sehr nervös war. Der damalige Kommentator Dani Kern gab mir den Tipp, dass ich mir vorstellen soll, mit ihm zuhause auf dem Sofa zu sitzen – und einfach zu erklären, was passiert. Das half mir sehr. Nach den ersten Einsätzen holten wir die Trainings-Sessions nach, wobei mir ein Profi Feedback gab.

Was ist das Herausforderndste als Co-Kommentator? 
Das Schwierigste ist, einfach einmal nichts zu sagen, zehn Sekunden Stille zuzulassen. Damit habe ich nach wie vor zu kämpfen. Wichtig ist auch, nicht auf zu viele Details einzugehen, die das Publikum überfordern.

Wofür bist du als TV-Experte konkret zuständig? 
Es gibt eine klare Rollenteilung zwischen mir und dem Kommentator – im Aerials ist das meist Silvan Schweizer. Der Kommentator weiss über die Athletinnen und Athleten und ihre Resultate Bescheid, weiss, wie alt sie sind und woher sie kommen. Er weiss alles, worauf er sich vorbereiten kann. Alles, was sie dann im Wettkampf machen, ist mein Part.

Wie bereitest du dich auf eine Übertragung vor? 
Ich telefoniere einen Tag vor dem Wettkampf immer mit Michel Roth. Er kann mir erzählen, was in den Tagen zuvor passiert ist, bei wem das Training gut lief, wie die Bedingungen waren und so weiter. Am Wettkampftag bin ich etwa eine Stunde vor der Übertragung im Studio. Dort schaue ich mir gemeinsam mit Silvan die Resultate aus der Qualifikation an und rufe Michel noch einmal an, um letzte Informationen zu den Bedingungen vor Ort und den geplanten Sprüngen einzuholen.

In einer Randsportart muss viel Hilfsbereitschaft da sein, damit es läuft.

Renato Ulrich

Inwiefern ist es herausfordernd, die Sprünge der Schweizerinnen und Schweizer zu kommentieren? 
Ich denke, dass ich extrakritisch und sicher nicht zu lieb bin mit ihnen. Sie sind technisch super, aber ich glaube, sie haben nach wie vor Potenzial bei der Ausführung, was ich auch jedes Mal wieder bemängle. Aber klar, sie haben ein mega Niveau. Letzten Endes muss ich aber objektiv bleiben.

Die Aerials-Familie ist eine kleine, eingeschworene Truppe. Wie würdest du deine Beziehung zum Team bezeichnen? Bist du der distanzierte TV-Experte, der ehemalige Kollege, der Wegbegleiter? 
Schwierig zu sagen. Ich stehe Michel nahe und habe Freude, wenn Aerials als Randsportart dank der guten Resultate übertragen wird. Mit den Athleten habe ich keinen direkten Kontakt, das läuft alles über Michel. Zudem bin ich auch noch Technischer Delegierter, daher würde ich sagen, dass ich eine Aussenperspektive einnehme, obwohl ich durch Michel weiss, was innen läuft.

Das enge Band wurde etwa spürbar, als dein einstiger Teamkollege Andreas Isoz und Jonas Roth, die Betreiber des Jumpin in Mettmenstetten, nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine Hilfsgüter sammelten und ins Land brachten – ursprünglich für ihre ukrainischen Aerials-Kollegen. Weshalb ist das Band zwischen euch so stark?
In einer Randsportart, in der das Preisgeld und die Vermarktung nicht im Vordergrund stehen und in der sehr viel Eigeninitiative nötig ist, muss viel Hilfsbereitschaft da sein, damit es läuft. An einem Europacup müssen die Athletinnen und Athleten den Schnee auf dem Landehang lockern – es müssen immer alle mithelfen, es braucht immer Aufwand. Du kannst nicht deine Ski nehmen, springen und dann wieder gehen – das ist im Weltcup so, aber nicht im Training. Ich glaube, das macht die Gemeinschaft aus.

Haderst du damit, dass du als Sportler vieles selber machen musstest? Oder weisst du das zu schätzen, weil dadurch das Zusammenleben viel enger wurde? 
Es braucht eben mehr Eigeninitiative im Aerials, denn du bist nicht in den professionellen Strukturen, in denen der gesamte Tagesablauf vorgegeben ist. Für die persönliche Entwicklung allgemein sehe ich das als grossen Mehrwert im Vergleich zu anderen Sportarten, in denen schon Teenager in fixen Strukturen sind. Ich glaube, für dein Leben nimmst du im Setting einer Randsportart viel mehr mit.

Apropos enge Gemeinschaft: Erinnerst du dich daran, wann du den Aerials-Weltmeister Noé Roth, den Sohn von Cheftrainer Michel Roth, zum ersten Mal gesehen hast?
Sicher! Ich sah Noé aufwachsen. Im Winter war er eigentlich nie dabei, dafür im Sommer. Im Jumpin in Mettmenstetten, wo wir trainierten, hatte es im Judges-Häuschen ein Laufgitter. Ich erinnere mich auch noch gut an Noés Geburt. Es war in meinem ersten Weltcup-Winter. Wir fuhren nach Arosa zum Training, Michels Frau Colette war hochschwanger. Wir waren irgendwo am Walensee, als der Anruf kam, dass die Fruchtblase geplatzt sei. Michel fuhr sofort heim.

Die Leute finden Aerials zwar cool und spektakulär, aber es ist zu weit weg, sie können sich nicht damit identifizieren.

Renato Ulrich

Wie ist es für dich, Noé nun als Weltmeister und zweifachen Gesamtweltcup-Sieger zu sehen? 
Obwohl beide Elternteile vom Aerials kommen, hatte ich nie den Eindruck, dass sie wollten, dass auch Noé diesen Sport betreibt. Er war Kunstturner und in seiner Freizeit wegen der Eltern immer im Jumpin. Man merkte schnell, dass er einfach Spass daran hatte, über die Schanze zu springen. Das ist auch heute noch so. Klar ist es super, wenn es gut läuft, aber er hat vor allem einfach grosse Freude daran. Michel hat ihm immer «Mändu», kleiner Mann, gesagt – für mich ist Noé das immer geblieben.

So erfolgreich das Team heute ist, so sehr kämpft es mit Nachwuchsproblemen. Was sind aus deiner Sicht die Gründe dafür, dass es nur wenige junge Talente gibt? 
Die Leute finden Aerials zwar cool und spektakulär, aber es ist zu weit weg, sie können sich nicht damit identifizieren. Die Distanz zwischen dem Zuschauen, der Faszination und «Ich mache jetzt einen Kurs!» ist zu gross. Das ist ein Hinderungsgrund. Fussball können alle spielen, die einen Ball haben. Für Aerials braucht es viel mehr Infrastruktur, es gibt spezifische Anforderungen und nur wenige Trainingsmöglichkeiten. Und viele Vereine mit potenziellen Nachwuchsathletinnen und -athleten mit einem akrobatischen Hintergrund haben Angst, dass sie ihre Leute an den Aerials-Sport verlieren, weshalb noch zu wenig kooperiert wird.

Wie kamst du damals zum Aerials? 
Ich stiess im Sportjournal der «Luzerner Zeitung» auf einen Artikel über das Jumpin. Ich war damals Trampolinspringer in der Junioren-Nationalmannschaft, aber um das ernsthaft zu machen, war ich im Kopf zu wenig weit. Im Text hiess es, dass Kinder und Jugendliche am Mittwochnachmittag jeweils im Jumpin schnuppern können. Als Trampolinspringer fand ich alles, was mit Springen zu tun hat, cool. So sagte ich meiner Mutter, dass ich gerne einmal hingehen möchte.

Und was geschah dann? 
Ich begann im Sommer 1998. Zuerst sprangen wir auf dem Trampolin, da war ich natürlich gut. Dann gingen wir über die Schanze, und als ehemaliger JO-Fahrer konnte ich auch Ski fahren. Schon an diesem Nachmittag machte ich Vorwärts- und Rückwärtssaltos und fand das megacool. Ein halbes Jahr später rief Michel Roth zuhause an und sagte, dass er auf der Suche nach Nachwuchs sei und ich im Sommer zum Training vorbeikommen soll. Das machte ich, und so rutschte ich rein. Ich wollte das nicht bewusst, es ergab sich irgendwie. Es machte mir einfach Spass.

Du gabst 2014 den Rücktritt. Was denkst du: Wie würdest du heute in einem Wettkampf abschneiden? 
Ich habe mich nie mehr über eine Schanze gewagt. Für mich war immer klar: Wenn du einmal weg bist, bist du weg. Einen Einfachsalto könnte ich schon noch machen, aber ich hatte nie mehr das Bedürfnis. Und es war mir auch zu heikel, weil ich keine Routine mehr habe. Für mich war der Rücktritt ein klarer Schnitt, und diesen habe ich nie bereut.

Auf welchen Moment der Karriere blickst du am liebsten zurück? 
Es gab viele coole Momente. Der 3. Rang im Gesamtweltcup 2011 war sicher ein Highlight. Allgemein die Zeit zwischen 2010 und 2011, als es einfach gut lief und ich konstant an der Weltspitze mittun konnte. Ja, wahrscheinlich der Moment in der Saison 2010, als ich realisierte, dass der Knopf aufgegangen und ich mittendrin war. Das war wohl das Befriedigendste für mich.

Einen Einfachsalto könnte ich schon noch machen, aber ich hatte nie mehr das Bedürfnis.

Renato Ulrich

Mittlerweile arbeitest du als Projektverantwortlicher E-Shop und Ticketing bei Swiss-Ski. Weshalb bist du nie Trainer geworden? 
Aerials hat mich fast das halbe Leben lang begleitet, ich habe viele schöne Erinnerungen, konnte enorm profitieren. Ich möchte mich, auch als Technischer Delegierter, eher als Funktionär einbringen, aber nicht direkt mit den Athletinnen und Athleten zusammenarbeiten. Das hat mich bisher schlicht nicht gereizt.

Werfen wir noch einen Blick nach vorne: Im März 2025 finden im Engadin die Snowboard- und Ski-Freestyle-Weltmeisterschaften statt. Was hätte es dir als Athlet bedeutet, zuhause um den WM-Titel zu springen? 
Das wäre ein absolutes Highlight gewesen. Aerials ist eine Sportart, in der du normalerweise keinen Wettkampf in der Nähe hast. Es ist einfach cool, wenn alle, die dich unterstützen, dabei sein können. Klar hast du auch sonst mehr Aufmerksamkeit, weil es in der Schweiz ist. Ich hoffe, man kann das für den Nachwuchs nutzen und dafür, die Sportart etwas erlebbarer zu machen.

Was traust du dem Schweizer Team zu? 
Wenn man mit Noé Roth und Pirmin Werner im Team keine Medaillenambitionen hätte, wäre etwas falsch. Sie werden sicher um die Medaillen kämpfen. Klar, es gibt auch andere, die mitreden wollen, die auch einen guten Tag haben – aber die Medaillenränge sind sicher das Ziel.

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Renato Ulrich: Fünfmal auf dem Weltcup-Podest
Renato Ulrich, 40, war bis 2014 Mitglied der Aerials-Nationalmannschaft. Der Luzerner erreichte fünf Weltcup-Podestplätze und nahm an drei Olympischen Spielen teil. 2009 und 2011 wurde er jeweils WM-Vierter. Nach dem Rücktritt machte Ulrich einen Bachelor in Business Administration, Tourismus und Mobilität. Seit April 2020 arbeitet er bei Swiss-Ski.