Schiessstand statt Schulzimmer

Zurück
Foto: Stephan Bögli

Als Kind spielte sie Biathlon im Garten. Zweimal war sie entschlossen, einen anderen Weg einzuschlagen und die Biathlon-Welt hinter sich zu lassen. Und doch prägt dieser Sport bis heute das Leben von Sandra Flunger – seit 2018 als Cheftrainerin der Schweizer Frauen-Equipe.

Die Weltmeisterschaften in Nové Město na Moravě sind Sandra Flungers fünfte, die sie als verantwortliche Trainerin der Schweizer Biathletinnen in Angriff nimmt. Mittlerweile ist niemand innerhalb des Schweizer Biathlon-Teams länger in einer leitenden Position tätig als die 41-jährige Salzburgerin, die ihren Führungsstil als «konsequent, aber freundschaftlich» bezeichnet.

Als Flunger im Frühling 2018 zu Swiss-Ski wechselte, tat sie das mit bemerkenswerten Erfolgen im Gepäck. Diese heimste sie in den beiden Jahren zuvor zwar auf höchster Stufe ein, zum Beispiel an den Weltmeisterschaften in ihrer Heimat Hochfilzen, gleichwohl stand sie dabei abseits des Scheinwerferlichts – oder um es im Biathlon-Terminus auszudrücken: Flunger stand nicht im medial ausgeleuchteten Schiessstand, sondern als eine von vielen entlang der Loipe – ohne Verbandszugehörigkeit.

Als man ihr nämlich im Frühjahr 2016 nach drei Jahren Tätigkeit als Weltcup-Trainerin der Frauen im Österreichischen Skiverband (ÖSV, heute Ski Austria) trotz erfolgreicher Entwicklung eine andere Ausrichtung auferlegte und einen zusätzlichen Trainer mit einer anderen Trainingsphilosophie zur Seite stellte, zog Flunger die Konsequenzen. «Ich kann gegenüber Athletinnen und Athleten nicht Ansichten vertreten, hinter denen ich nicht stehen kann.» Sie verliess den Verband und stellte sich zum zweiten Mal darauf ein, dem Biathlonsport Adieu zu sagen und in ihren erlernten Beruf einzusteigen. Doch nur wenige Wochen nach ihrem freiwillig-unfreiwillig Abgang beim Verband stand eine Gruppe von Athletinnen an ihrer Tür – mit der Bitte, künftig weiterhin unter ihrer Anleitung trainieren zu dürfen.

Die Biathlon-Anlagen sind wie Klassenzimmer in der freien Natur.

Sandra Flunger

Zusammen mit ihrem Onkel, dem sechsmaligen Olympia-Teilnehmer und zweimaligen WM-Medaillengewinner Alfred Eder, gründete Flunger daraufhin einen Verein namens «Biathlonschmiede». In jenem Privatteam ausserhalb der Verbandsstrukturen trainierten fortan unter anderen Simon Eder, Alfred Eders Sohn, und die nachmalige Weltmeisterin Lisa Theresa Hauser. Im Weltcup waren die Athletinnen und Athleten der «Biathlonschmiede» jeweils in den Verband integriert, derweil Flunger privat unterwegs sein musste und nur dank Bekannten, die im Ausrüster-Bereich tätig sind, an Weltcup-Akkreditierungen gelangte. So war es ihr immerhin möglich, vom Streckenrand aus unterstützend dabei sein zu können.

Germanistikstudium, um Abstand zu gewinnen

Ein erstes Mal ein Leben ausserhalb des Biathlons in Angriff genommen hatte Flunger vor 20 Jahren, als sie ihre Aktivkarriere gesundheitsbedingt frühzeitig beendet hatte. Flunger studierte in Salzburg Deutsch und Sport auf Lehramt und war fest entschlossen, ihr künftiges Berufsleben in Schulzimmern und Turnhallen zu verbringen. «Ich wollte Abstand zum Biathlon gewinnen. Dass ich je wieder zum Biathlon zurückkehren würde, war zum Zeitpunkt des Studiums nicht geplant.» Doch plötzlich bot sich Flunger die Chance, am Skigymnasium in ihrem Heimatort Saalfelden in einem Vollzeitpensum als Trainerin einzusteigen. Sie übernahm dort die Biathlongruppe mit Knaben und Mädchen – rückblickend war dies der Startschuss für ihre heutige Tätigkeit.

Die Vorzüge am Lehrerinnendasein, nämlich mit Menschen zu arbeiten und diese in ihrer Entwicklung zu fördern, erfahre sie auch dank ihrem heutigen Job, so Flunger. «Im Biathlon habe ich sogar mit meinem vollen Interessensgebiet zu tun. Die Biathlon-Anlagen sind wie Klassenzimmer in der freien Natur.» Einzig ihr Interesse für die Literaturgeschichte und das Lesen kommt zu kurz. Für Romane und Lyrik bleibt während des Biathlon-Alltags zu wenig Zeit. Diese findet sie primär zwischen Saisonende und Beginn des Sommertrainings. In den Ferien hat sie jeweils ein Bücherpaket dabei. Doch bevor sie sich mit hochstehender Literatur beschäftigen kann, gilt es zunächst jeweils, die Müdigkeit aus dem Kopf zu bringen. «Deshalb beginne ich mit etwas Leichtem, meist mit Comics.»

Als Swiss-Ski vor sechs Jahren um ihre Dienste warb und ihr eine Anstellung als Frauen-Nationaltrainerin in Aussicht stellte, tat sich in Sandra Flungers eigener Geschichte ein neues Kapitel auf, welches längst noch nicht zu Ende erzählt ist. So sehr sie die neue Aufgabe reizte, so schwer fiel es ihr zu Beginn, das Privatteam nach zweijährigem Engagement zu verlassen. Sie fühlte sich ihren Athletinnen und Athleten aus der «Biathlonschmiede» gegenüber zu Loyalität verpflichtet. Doch diese waren es letztlich, die ihr zum Wechsel in die Schweiz rieten. «Als bei mir noch ein paar Restzweifel da waren, waren es meine Athletinnen und Athleten, die mir klarmachten, dass ich diese Chance packen muss.»

Sie ist sehr menschlich und begegnet uns auf Augenhöhe.

Elisa Gasparin über Sandra Flunger

Flunger bezeichnet ihr erstes Ausland-Engagement als Sprung ins kalte Wasser. Doch sie merkte schnell, dass die Konstellation passt. «Ich muss gerne mit Menschen zusammen sein, mit denen ich fast tagtäglich zu tun habe. Dies ist der Hauptgrund, weshalb ich mich nun bereits in der sechsten Saison in der Schweiz befinde.»

Onkel und Liverpool-Coach als Vorbilder

Ein zentraler Punkt ihres täglichen Engagements als Trainerin ist die zwischenmenschliche Beziehung. Die Zusammenarbeit muss auf einer vertrauensvollen Ebene basieren – aber mit strikten Vorgaben, so das Credo der Österreicherin, die Jürgen Klopp, den Erfolgstrainer des Liverpool FC, deshalb neben ihrem Onkel Alfred als berufliches Vorbild bezeichnet. «Er ist mit Feuer und Flamme bei der Sache. Man sieht, dass Klopp seinen Traumjob ausübt. Seine Spieler gehen für ihn durchs Feuer, was zeigt, dass er zu ihnen eine vertrauensvolle, zwischenmenschliche Beziehung aufbauen konnte.» Das Wort «Vertrauen» fällt mehrfach, wenn es in Gesprächen mit Sandra Flunger um ihre Tätigkeit als Trainerin geht. Sie betrachtet ihre Aufgabe ganzheitlich. Ihr geht es nicht nur um Leistungssteigerung in der Loipe oder am Schiessstand, sondern auch darum, innerhalb eines Teams eine Atmosphäre zu schaffen, in der aus einzelnen Persönlichkeiten eine Einheit wird.

Elisa Gasparin, die Erfahrenste im Schweizer Team, sieht in Sandra Flunger nicht nur eine Trainerin, sondern auch eine Art Mentorin. «Sie kann sehr hart sein, aber man kann mit ihr offen über Probleme reden – und man findet gemeinsam Lösungen. Sandra ist sehr menschlich und begegnet uns auf Augenhöhe.» Sie sei immer für ihre Athletinnen da und finde jeweils die richtigen Worte, ergänzt Aita Gasparin. «Mit Komplimenten ist Sandra eher sparsam, was uns stets antreibt, besser zu werden und ehrgeizig zu bleiben. Wenn sie aber mal eines ausspricht, ist es nicht nur doppelt schön, sondern auch hundertprozentig ehrlich gemeint und sehr verdient.»

Man besitzt mehr Empathie, als wenn man als Athletin selbst alles aus einem Guss, ohne Probleme, erlebt hätte.

Sandra Flunger

Aita und Elisa Gasparin waren in der Saison 2019/20 Mitglied jener Schweizer Frauen-Staffel, die innerhalb von anderthalb Monaten drei Weltcup-Podestplätze herauslaufen konnte. «Diese Wochen waren der Wahnsinn. So muss sich ein Trainer des norwegischen Teams fühlen», sagt Flunger rückblickend mit einem Schmunzeln. Das Team hätte sich damals in einem regelrechten Flow befunden. «Man hat gespürt, dass das Team diesen Staffel-Podestplatz unbedingt noch vor dem Karriereende von Selina Gasparin erringen wollte.»

Holzgewehre und Schachfiguren im Garten

Flunger, die sich aufgrund ihrer familiären Herkunft als Kind des Biathlonsports bezeichnet, möchte selbstredend weitere Spuren in der Schweiz hinterlassen – am liebsten solche im Zuge eines Medaillengewinns an einem Grossanlass. So wie ihr das 2017 als Privattrainerin ihres Cousins Simon Eder, mit dem sie einst als Kind im eigenen Garten mit Holzgewehren und Schachfiguren als Zielscheiben Biathlon gespielt hatte, an der Heim-WM in Hochfilzen gelang.

Derweil sich Simon Eder als zweimaliger Olympia- und fünfmaliger WM-Medaillengewinner in der Biathlonwelt als Athlet einen Namen machen konnte, beendete Sandra Flunger ihre Aktivkarriere aus gesundheitlichen Gründen bereits mit 21 Jahren – ohne Weltcup-Einsatz. Zwei Jahrzehnte später ist sie überzeugt, dass sie dieser persönliche Rückschlag zu einer besseren Trainerin gemacht hat. «Man besitzt mehr Empathie, als wenn man als Athletin selbst alles aus einem Guss, ohne Probleme, erlebt hätte.»